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Heimkehr

  • Autorenbild: Ralph
    Ralph
  • 16. Okt.
  • 6 Min. Lesezeit

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Oder ist es schon wieder die Flucht? So vieles geht mir gerade durch den Kopf, und ich bin mir nicht sicher, ob ich so schnell schreiben kann, wie meine Gedanken gerade umherirren.Zu viele Eindrücke, zu viele Prozesse im Parallelen, und ich befürchte, vieles davon muss sich erst setzen. Verdauen, wie man so schön sagt. Das Wichtige von dem Unwichtigen sedimentieren, sortieren, das Gute behalten, das Schlechte entfernen.Was ist es wert, darum zu kämpfen?

Die Zugfahrt von Barcelona nach Paris verlief ereignislos. In Paris selbst schnell im Hotel nahe des Louvre eingecheckt, noch kurz raus, spazieren und Crème Brûlée – das Wichtigste abgehakt. Zurück ins Hotel und einfach eingeschlafen. Das ging schnell. Irgendwann spät aufgewacht und nach dem Zähneputzen weitergeschlafen. Man kann auch einfach mal müde sein.

Der nächste Tag plätscherte ereignislos vor sich hin. À Paris – ja, schön, aber ich hatte anderes im Kopf. Es gärte.Wollte ich auf den Eiffelturm – mit meiner Höhenangst? Ich stand vor der Kasse, ganz nach oben ausgebucht. Nicht wirklich traurig darüber, machte ich noch ein paar nette Fotos und bummelte weiter. Eine schöne Sonnenuntergangssession mit dem Eiffelturm als Kulisse. Das war’s, der Tag.

Am nächsten Morgen weiter mit dem Zug nach Deutschland. Zuerst Mannheim, Umstieg, 30 Minuten Aufenthalt. Eigentlich wollte ich ins Amas, Nudelsuppe der alten Zeiten wegen. Dachte, fahr ich später nach Stuttgart. Schaute in die App und sah, dass der nächste buchbare Zug in vier Stunden fuhr. Der Grund? Wasen. So viele Leute in „Tracht“ am Bahnhof – darauf hatte ich nun wirklich keine Lust und nahm meine reguläre Verbindung, anstatt meine Zeit in Mannheim zu verplempern.

Also in meinen gebuchten Zug und ab in die Mutterstadt.Das ist jetzt etwas komplex, meine Gefühlswelt wiederzugeben, da es – wie bereits erwähnt – sehr vielschichtig ablief, falsch abläuft. Nach wie vor sehr verwirrend. Irgendwann saß ich auf der Karlshöhe und schaute nach Heslach, was sehr entspannend war, so als ob ich nie weggewesen wäre. Und dieses Gefühl behielt ich die ganze Zeit über.Überall, wohin ich ging, war es so, als ob ich gestern erst dort gewesen wäre. Nichts hatte sich wirklich verändert. Egal wohin ich blickte, egal wohin ich ging, es war, als wäre ich nie weggewesen. Ich kannte alles, nichts Neues – und ich begann, mich zu langweilen. Selbst die Personen, die ich traf – als hätten wir uns gestern erst gesehen. Es war die ganze Zeit über sehr surreal. Ich zog mich mehr und mehr in mich selbst zurück und begann nachzudenken.

Das Gefühl hatte ich schon vor Stuttgart, bereits in Paris. Ich weiß, dass es in Italien noch nicht so ausgeprägt war, auch weil ich dort noch an Orten unterwegs war, die ich unbedingt erkunden wollte. Aber seit ich alleine in Barcelona war, war ich eher gelangweilt. Die Zugfahrt nach Schwäbisch Gmünd brachte auch keine Änderung des Zustands – im Gegenteil, ich wurde immer missgelaunter. Nichts Neues. Ich spulte ab: Friedhof, Pflegeheim, Einkaufen.

Nichts Neues beim alten Mann.Überrascht war er, dass ich da war. Erzählen hatte er natürlich nichts. Und ich? Nun ja, ich muss ihm ja nicht erzählen, dass ich ausgewandert bin. Bin ich nun mal ein schlechter Sohn und nie da. Er war auch nie da, als ich jung war. Er versteckte sich hinter seiner Krankheit, ich verstecke mich hinter meiner Arbeit. Touché.

Ich wurde als Kind zur Waffe gegen ihn umfunktioniert – hat ihm damals als psychisch Krankem auch nicht geholfen. Diesen Kampf führe ich aber nicht gegen ihn; der wird an die Täterin adressiert. Aktuell schon allein dadurch, dass ich ihn besuche – und nicht sie. Selbst die Sehnsucht, mit ihr zu reden, ist mittlerweile nicht mehr vorhanden.

Eigentlich stand ich am Friedhof am Grab meiner Großeltern, beziehungsweise meiner Oma, und hatte eine ganz andere Geschichte im Kopf. Die Geschichte, wie sie eine Familie zusammengehalten hat – und wie diese nach ihrem Tod äußerst rasch zerfiel. Das war schon bei meiner Hochzeit zu merken, das letzte Mal, als noch alle zusammenkamen, um zu feiern. Alle? Nein, bis auf eine Person – die eine, die seit Jahren versucht hat (erfolgreich!), die Familie zu spalten, und im Vorfeld meiner Hochzeit im höchsten Maße spalterisch auftrat. Getrieben von der Eifersucht gegenüber all den nach ihr Geborenen, die ihr das Rampenlicht nahmen. Macht keinen Sinn? Soll es auch nicht.

Nur so viel: Dass du damals zum 100. Geburtstag unserer Oma gemeinsam mit mir zum Gratulieren ins Krankenhaus gegangen bist – das werde ich dir nie vergessen. Der Moment, als mir meine Oma die Hand fest drückte und ich ihr sagen konnte, dass ich sie liebe, dieser Moment des Abschiednehmens, wenige Tage bevor sie starb, der ewig in mir leben wird – den verdanke ich dir. Danke, Sandra, das werde ich dir nie vergessen.

Den alten Mann verlassend, mit der Aussage, dass ich es vor Weihnachten wohl nicht mehr zu ihm schaffen werde. Der traurige Blick in seinen Augen – er ist allein, und ich denke, er weiß, dass ich ihm nicht die Wahrheit sage. Aber ich möchte auch nichts in ihm auslösen. Er war schon sehr besorgt, als ich ihm erzählte, dass ich mit Radioaktivität arbeite – das hat ihn monatelang beschäftigt. Wie wird er erst reagieren, wenn ich ihm sage, dass ich auf der anderen Seite der Welt arbeite?

Er wollte meine Mütze haben, meine AdvanCell-Mütze – die ließ ich ihm.Leb wohl, alter Mann. Ich hoffe, du lebst noch lange, obwohl du sagst, dass du gern sterben möchtest, damit ich noch etwas erbe. Mach dir keine Sorgen um mich, genieß deine vier Mahlzeiten täglich und dass man sich um dich kümmert – du hast es dir verdient. Geld ist mir nicht wichtig, Besitz auch nicht. Im Gegenteil: Nur wer etwas hat, kann auch etwas verlieren.

Irgendwie wurde mein Gemüt nicht besser während der Zeit in Stuttgart. Nur abends, wenn ich mit neuen Bekannten kommunizierte, fühlte ich mich wohl. Auf der anderen Seite lief mir die Zeit davon. Ich wollte noch so viel sehen, wiedersehen und machen. Ein Paket mit Bier nach Australien schicken, unbedingt an der Uni vorbeischauen. Das PSE fotografieren, das ich vor 20 Jahren oder so mit einer Gruppe in der Fachschaft gemacht hatte – es hängt heute noch dort. Daran musste ich mich erinnern. Was waren das für Tage, hat Spaß gemacht. Immer wieder dachte ich daran, wie alle an einem Strang zogen und das Ding in vier Tagen herstellten – alle, bis auf … oh Gott, wie hieß die nochmal? Die Trulla aus dem Osten, die sich immer überall in den Mittelpunkt stellte? Kein Plan mehr. Furchtbare Person. Die Beste, die Größte, weiß alles, kann alles – bis es dann ans Machen ging. Reinfall. Störgeräusche.

Traf mich noch mit alten Bekannten an der Uni, seit zehn Jahren nicht mehr gesehen – kannten mich immer noch, das Gespräch weitergeführt, als ob keine Zeit vergangen wäre. Etwas über den erfahren, etwas über andere. Die meisten kämpfen gerade in der Krise. Bosch-Abteilungsschließungen, BASF-Auflösungsverträge und so weiter und so fort. Das Leben nach dem Studium in einer großen Firma ist nun also doch nicht so komfortabel, wie es sich damals anhörte. Ach was? Wer hätte sowas wissen können? Schon blöd, wenn du ein Haus hast, zwei Kinder und plötzlich keine Arbeit mehr und vermutlich umziehen musst. Raus aus der Komfortzone und wieder klein anfangen. Diesen Knick bekommen manche nicht so einfach hin.

Ich hörte zu – tatsächlich genoss ich es, zu hören, wie die plötzlich straucheln, denen immer alles in den Schoß gefallen war: Studium, Miete, Leben. 42 – plötzlich wird alles unsicher, nichts ist mehr geregelt, und du strauchelst, fällst und weißt nicht, wie man wieder aufsteht.Und ich? Mir wurde bewusst, dass ich ein gehässiger Mensch bin.

Ich schlenderte durch die Uni, schaute mir meine alten Labore an – die in den Kellern –, mein Büro, in dem ich meine Promotion machte, und sah zum allerersten Mal, wie kaputt das alles aussah. Alt, zerfallen, wenig gepflegt. Zehn Leute angestellt, um die Arbeit einer Person zu erledigen. Excel-Tabellen ausfüllen, verwalten, dieselbe Lehre machen, die man schon seit Jahren betrieb.

Ich musste gehen.Das wollte ich einmal machen? Ich wäre gestorben vor Langeweile. Kein Wunder, dass ich damals so viel gesoffen habe.Keiner macht mehr Forschung, sie sitzen rum und lamentieren über dieselben Probleme und Personen wie schon vor zehn Jahren. Schreiben an denselben Publikationen. Ich musste raus. Ich hatte, was ich wollte – in diesem Sinne.

 
 
 

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